Die Union im Wandel: Risiko, Versprechen und die Herausforderung der Koalitionsverhandlungen

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Mitglieder,

blickt man hinter die derzeitigen Kulissen der Bundespolitik, kann man eine recht verkaterte Union beobachten. Während offiziell natürlich von einem geradezu grandiosen Wahlerfolg gesprochen wird, bedauert man in internen Kreisen doch sehr, nicht die 30%-Marke durchbrochen zu haben. 30 plus X auf Bundesebene zählte genauso zum Mindest-Wunschergebnis wie 40 + X für die CSU in Bayern. Beides wurde nicht erreicht und ist mit ein Grund dafür, dass sich CSU-Chef Markus Söder derzeit so „handzahm“ gibt.

Wachsende Zweifel und nachlassende Zustimmung im bürgerlichen Lager
Offiziell wird derzeit niemand CDU- und Unions-Fraktionschef Friedrich Merz „anzählen“. Doch die leisen kritischen Äußerungen sind durchaus mehr geworden und sie betreffen praktisch die gesamte Bandbreite der während des Wahlkampfes von Merz aufgegriffenen politischen Fragen. Insgesamt wird eine – natürlich nur unter Berücksichtigung des FDP-Wahlergebnisses – nachlassende Zustimmung zum bürgerlichen Lager registriert (bei der Wahl zuvor erreichte dieses noch 35,6 Prozent der Stimmen, aktuell waren es nur noch 32,8 Prozent). Kritische Parteifunktionäre wünschen sich auch hier von CDU und CSU eine etwas selbstkritischere Aufarbeitung.

Fehlende Mehrheiten und fehlende Erfahrung im föderalistischen System
Als eine folgenschwere Fehlkalkulation muss sich Merz intern auch das zukünftige Fehlen einer Zwei-Drittel-Mehrheit der „politischen Mitte“ ankreiden lassen. Merz‘ geradezu hekti­sches Ringen um eine Aufweichung der Schuldengrenze durch den noch für wenige Tage bestehenden, alten Bundestag – in dem es eine entsprechende Mehrheit noch geben dürfte – gibt ein beredtes Bild von der „Notlage“, in der Merz sich nun offenkundig sieht. Er mutet dabei, der Jahreszeit entsprechend, fast wie ein Karnevalsprinz an, der sich die als notwendig erachtete „Pinkepinke“ schnell noch genehmigen lassen möchte. Ob und inwie­weit die sich getäuscht fühlenden Wähler dies die Unionsparteien bei kommenden Urnen­gängen spüren lassen werden, kann an dieser Stelle aber noch nicht prognostiziert werden.
Merz wird nun zudem immer deutlicher zu spüren bekommen, dass es ihm beim Umgang mit dem feinziselierten föderalistischen System Deutschlands an praktischer Erfahrung fehlt. Im Deutschen Bundestag brachte er es in früheren Jahren bis zum Oppositionschef, aber auch nicht mehr. Dem künftigen Kanzleramtsminister wird daher eine besondere Bedeutung zukommen. Erste Stimmen weisen in diesem Zusammenhang auf den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Hendrik Wüst (CDU) hin, der von den meisten seiner Länder-Kollegen geschätzt wird und dem manche Beobachter auch eine für die Union meistens erfolgreiche Koordinierung zukünftiger Bund-Länder-Angelegenheiten zutrauen würden.

SPD und Union: Wackeliges Bündnis & die Zukunft der Koalitionsverhandlungen
Es fehlt ein Blick auf die SPD, den zu Zeiten der „Brandmauer“ einzig denkbaren Koalitionspartner. Da Union und SPD zusammen nur rund 44 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigen konnten, fällt es durchaus schwer, dieses Bündnis wie in früheren Zeiten als eine „Große Koalition“ zu bezeichnen. Im Gegensatz zu früheren Merkel-Wahlkämpfen, bei denen diese einfach einen großen Teil der Oppositionsforderungen übernahm bzw. totschwieg und die politischen Gegner damit in eine Art politische Starre versetzte (asymmetrische Demobilisierung), wurde beim kürzlichen Bundestagswahlkampf wieder kräftig ausgeteilt und eingesteckt. Letztlich stiegen alle mit mehr oder weniger starken Blessuren aus dem Wahlkampf-Boxring und die Vertreter von Union und SPD sehen sich nun zur Zusammenarbeit „verpflichtet“.

In der SPD ist es vor allem der Parteichef und neue Fraktionsvorsitzende Lars Klingbeil, der das Kunststück vollbrachte, als eigentlicher Wahlverlierer – er war maßgeblich für den erfolglosen SPD-Wahlkampf verantwortlich – dennoch seine parteiinterne Macht auszuweiten. Die SPD-Co-Chefin Saskia Esken wird dies auch noch versuchen und dafür „kräftig nerven“, wie sie selbst androhte. Während Esken dabei von vielen Genossen eher als „Nervensäge“ wahrgenommen werden dürfte, kann Klingbeil als ausgewiesener Realpolitiker auf seine hervorragende Vernetzung innerhalb der gesamten SPD zurückgreifen. Mit rund 85 Prozent Zustimmung wurde er als Fraktionschef mit einem guten, aber nicht überragenden Ergebnis gewählt – sein Vorgänger Mützenich kam stets auf rund 95 Prozent. Klingbeils Ergebnis ist also auch als eine Aufforderung durch die Genossen zu verstehen, aus den Koalitionsverhandlungen das eine oder andere „Leckerli“ herauszuholen. Dies wird auch für das nach dem eventuell erfolgreichen Abschluss der Koalitionsverhandlungen noch anstehende SPD-Mitgliedervotum von Nutzen sein.

Union vor riskanten Entscheidungen:
Versprechen und die Herausforderung der Migration

Vor der Union stehen dabei einige riskante Manöver. Sie hatte schließlich vor der Wahl noch einen kräftigen Kurswechsel auf vielen politischen Feldern versprochen. Allem anderen voran bei der illegalen Migration, wo Merz versprach, vom ersten Tage an – notfalls auf dem Wege der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers – Zurückweisungen an der Grenze und andere Maßnahmen zu ergreifen. Sollte dieses Versprechen gebrochen werden – das ist den meisten Beobachtern schon heute klar – wird dies einen erneuten und massiven Vertrauensverlust in die Unions-Politik nach sich ziehen. Manche Unionsvertreter hoffen deshalb, die SPD-Verantwortlichen für eine Art „Dänemark-Lösung“ begeistern zu können, wo die sozialdemokratische Regierungschefin Mette Frederiksen mit einem Knallhartkurs in der Flüchtlingspolitik u.a. die Flüchtlingszahlen deutlich senkte.

Wagenknecht und die politische Machtverschiebung:
Eine mögliche Drei-Parteien-Koalition?

Und dann ist da noch Sahra Wagenknecht und ihr gleichnamiges Bündnis, deren knappes Scheitern an der 5%-Hürde der CDU erst die grundsätzliche Möglichkeit einer Regierungsbildung mit nur einem Koalitionspartner ermöglicht. Sollte Wagenknecht mit der von ihr angekündigten Anfechtung des Wahlergebnisses vor Gericht erfolgreich sein, würde dies die gegenwärtige Machtarithmetik im Parlament verschieben und eine Drei-Parteien-Koalition unabdingbar machen.

Doch bis zur Kanzlerwahl (bei der Schwarz-Rot nur eine 12-Stimmen-Mehrheit haben wird) wird Merz noch einige andere Hürden zu überwinden haben. Will er die Union bei der nächsten Wahl nicht in einen regelrechten Abgrund stürzen, darf er keine Wählerenttäuschung riskieren und er muss die von ihm versprochene Politikwende (Migration, Wirtschaft, Soziales) zumindest in deutlich erkennbaren Teilbereichen realisieren. Mehr wird nicht möglich werden, denn er muss dabei mit der SPD einen Koalitionspartner mit auf den Weg nehmen, der sich aktuell in einer sensiblen Selbstfindungs- und Häutungsphase befindet.

Fazit:

Scheitern ist dabei für beide Koalitionspartner (insbesondere aber die SPD) keine Option. Denn die Angst vor einer schnellen Neuwahl ist im politischen Berlin allgemein verbreitet.

Thomas Brügmann
Präsident des BDS NRW und der BVMU